Ist Deutschland ein Niedriglohnland?

Von Wolfgang Nagorske

Deutschland wird gerade in diesen Zeiten als ein Musterland in Europa, ja in der Welt, charakterisiert. Und in der Tat. Es gibt vieles auf das wir stolz sein können. Auf ein Gesundheitssystem, das in schwieriger Zeit bisher allen Stürmen standhält. Auf eine Wirtschafts-und Finanzpolitik, die es verstanden hat, auftretende Krisensituationen zu meistern. Und ja, auch auf den Klimaschutz, auch wenn er hierzulande heftig kritisiert wird. Aber alles das heißt noch lange nicht, dass alles gut ist zwischen Ostsee und Alpen. Und schon gar nicht mustergültig. Ökonomen weisen immer wieder darauf hin, dass Deutschland auf dem Weg in ein Niedriglohnland ist. Als eine wesentliche Ursache dafür sehen sie die zurück gehende Tarifbindung in der deutschen Wirtschaft. Weniger als die Hälfte der Beschäftigten arbeiten heute nach einem festgelegten Tariflohn, der von den Gewerkschaften und den Unternehmen ausgehandelt wird. Gerade diese Tarifbindung, von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard vor 70 Jahren entworfen, war eine Säule der auch von ihm mitentwickelten Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Und diese Säule beginnt zu bröckeln. Jeder fünfte Beschäftigte arbeitet heute für einen Niedriglohn. In der Regel ist es der sogenannte Mindestlohn. Gegenwärtig beträgt er 9,35 Euro pro Stunde, also rund 1500 Euro Brutto im Monat. Jeder weiß, was nach Abzug von Steuern, der Miete und anderer gestiegener Lebenshaltungskosten für das eigentliche Leben übrig bleibt. Das Wort von den systemrelevanten Berufen wird gegenwärtig oft zitiert. Doch gerade hier werden keine entsprechenden Löhne gezahlt: In den Krankenhäusern, in den Pflegeheimen, im Handel und den Zustelldiensten. Eine Ursache sind fehlende Tarifverträge. Unter der Tarifflucht leiden nicht nur die Beschäftigten. Auch den Sozialversicherungen fehlen jährlich rund 25 Milliarden Euro in den Kassen. Und dem Bund, den Ländern und den Gemeinden entgehen 15 Milliarden Euro im Jahr. Das Fragezeichen in der Überschrift hat sich erledigt.


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