Die Fenster aufstoßen, hinter denen man nicht atmen konnte

Von Wolfgang Nagorske

 

Der 21. August 1968 ist tief in das Gedächtnis Europas und der Welt eingebrannt. An diesem Tag wurde die Hoffnung der Menschen in der Tschechoslowakei, und nicht nur dort, durch den Einmarsch der Warschauer Paktstaaten zerstört, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz aufzubauen. Im Januar 1968 ereignete sich in Prag ein Ereignis, was bis dahin niemand für möglich gehalten hatte. Der langjährige Parteichef Antonin Novotny und Favorit der sowjetischen Parteiführung in Moskau verlor die Wahl gegen seinen Widersacher Alexander Dubcek. Dubcek überzeugte das Zentralkomitee mit seiner Vision, den Sozialismus in der CSSR aus seiner Erstarrung zu befreien und aus einer doktrinären Wirklichkeit in eine hoffnungsvolle Zukunft zu führen. Wie sollte diese Zukunft aussehen? Zuallererst sollten alle Parteifunktionäre in freier Wahl in ihre Funktionen kommen und ebenso alle Volksvertreter vom Volk in freier Abstimmung gewählt werden. Ein in den Augen der Stalinisten in Moskau ungeheuerlicher Vorgang. Aber das war noch nicht alles. An Dubceks Seite stand der Ökonom Ota Sik. Einer seiner Sätze lautete, Theorie allein liefert keine Atemluft. Über eine Veränderung der Wirtschaftsorganisation sollte der Sozialismus sein menschliches Antlitz zeigen. Ota Sik wollte die so genannte Makroökonomie, also Kohle-und Stahlindustrie, die Eisenbahn, die Post und die Banken in staatlicher Verwaltung belassen und im Handwerk, in der mittelständischen Industrie und im Dienstleistungssektor privat organisierte Wirtschaftsformen zulassen. In Moskau und in Ostberlin sah man darin die Öffnung der Tür für den Kapitalismus. Während Ota Sik den gesunden Eigennutz von kleinen und mittleren Unternehmern wecken wollte, um das Angebot an Konsumgütern und Dienstleistungen schnell zu verbessern, beharrten die verknöcherten Ideologen auf den Einfluss der Partei bis hin zum Anbau von Radieschen. Da Alexander Dubcek sich auch während mehrerer Treffen mit dem sowjetischen Parteichef Leonid Breshnew nicht von seiner Auffassung über den Aufbau des Sozialismus abbringen ließ, kam, was damals niemand für möglich hielt. Panzer von so genannten befreundeten Staaten beendeten den Prager Frühling. Ota Sik sagte später: „Wir wollten doch nur die Fenster aufstoßen, hinter denen man nicht mehr atmen konnte.“


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