NATO ohne Feind
Von Wolfgang Nagorske
So zerstritten war ein NATO-Gipfel noch nie. Weder Frankreich und die Türkei, noch die nordamerikanischen Staaten und Europa marschieren im Gleichschritt. Der französische Präsident Macron attestierte der NATO einen Hirntod und kritisierte die Türkei wegen ihres Einmarsches in Syrien. Der türkische Präsident Erdogan riet daraufhin seinem französischen Kollegen, sich doch von seinem Hirntod heilen zu lassen. Für Erstaunen sorgte allerdings der US-Präsident Donald Trump, der noch vor etwas mehr als einem Jahr das westliche Verteidigungsbündnis für obsolet hielt. Nun lobte er das Bündnis und vor allem Deutschland, das endlich mehr Geld in die Kasse zahlte. Doch hinter den Kulissen wird schon über die Sinnhaftigkeit der NATO gesprochen. Brauche man sie noch, nachdem sich der Hauptfeind im kalten Krieg, die Staaten des Warschauer Paktes ihr Bündnis auflösten und die Sowjetunion zusammenbrach. Insider sprechen es offen aus: Uns ist der Feind verloren gegangen. Das wieder erstarkte Russland taugt trotz Krim-Annexion nur bedingt zum neuen Feind. Laut Umfragen sehen die Menschen in Europa Russland nicht als Gefahr für den Frieden. In ihrer ganzen Hilflosigkeit erkannte die NATO dann doch noch eine Bedrohung für den Weltfrieden. Man konnte es fast ahnen. Der neue Feind heißt China. China stellt in der Tat eine Bedrohung für die traditionellen westlichen Wirtschaftsmächte dar ob des rasanten wirtschaftlichen Aufschwungs in den vergangenen zehn Jahren. Doch der Huawei-Konzern stellt keine Langstreckenraketen her, die Europa und die USA treffen könnten. Die Stärke Chinas zeigt sich auf den Wirtschaftsmärkten der Welt und am sinkenden wirtschaftlichen Einfluss der westlichen Staaten in Asien und Afrika. Nein, China taugt nicht zum neuen westlichen Feindbild. Ein Handelskrieg ist kein heißer Krieg. Die NATO-Politiker bekommen schon den erhobenen Zeigefinger ihrer Konzernchefs zu sehen. Das Milliarden-Volk ist ein riesiger Absatzmarkt und damit ein Garant für satte Gewinne. Die NATO bleibt weiter auf der Suche nach ihrer Sinnhaftigkeit.