Die Angst vor dem Volk

Irgendetwas ist anders geworden. Im Zusammenhalt der Gesellschaft, im Ton der Regierenden und ja, auch das deutsche Volk ist nicht mehr das, was es noch vor wenigen Jahren einmal war. Einen sichtbaren Ausdruck findet das in der Wahlbeteiligung. Lethargie und wachsende Teilnahmslosigkeit an der Zusammensetzung der Parlamente wurden von Jahr zu Jahr deutlicher spürbar. Die Wahlbeteiligung sank in einigen Bundesländern auf die 50-Prozent Marke. In einigen Landkreisen konnten bei Direktwahlen keine Landräte gewählt werden, weil weniger als 15 Prozent der Wahlberechtigten überhaupt zur Wahl gingen und damit das nötige Quorum verfehlt wurde. In anderen Landkreisen oder Kreisstädten lag die Wahlbeteiligung unter 20 Prozent, vor allem in den neuen Bundesländern.

Gerade hier, wo doch am 18. März 1990 bei der ersten freien Wahl zur Volkskammer der DDR über 90 Prozent ihre Stimme abgaben. Natürlich, das war eine besondere Situation. Doch dieses Argument erklärt nicht, warum nur 20 Jahre später in einigen Regionen nicht einmal 15 Prozent der Wähler den Weg ins Wahllokal finden. Auch die alten Bundesländer haben schon bessere Zeiten bei der Wahlbeteiligung erlebt. In einer parlamentarischen Demokratie ist die Wahlbeteiligung nun einmal ein Indikator für Politikinteresse oder Politikverdrossenheit.

Was führte vom Politikinteresse zur Politikverdrossenheit? Ursachenforschung ist eine ursächliche Angelegenheit der Regierenden, denn es kann nicht in ihrem Interesse liegen, von einer immer mehr abnehmenden Zahl der Wähler ihr Mandat zu erhalten. Es war in den zurückliegenden Jahren nicht erkennbar, dass tatsächlich Ursachenforschung betrieben wurde. Erkennbar wurde dagegen eine spürbar steigende Arroganz in der Politik. Gewählt ist gewählt, Kopf runter und weiter so. Kein Bemühen, die Menschen einzubeziehen in politische Entscheidungen und damit wieder mehr Interesse als Verdrossenheit zu erzeugen. Dagegen kamen Vorschläge, Wahlurnen auch in Supermärkte und Restaurants aufzustellen, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Die Wahl als Panoptikum. Dem Weiter so da oben folgte die Abkapselung, ja Abnabelung da unten.

Der Abstand zwischen den Politikern und den Menschen im Lande hat ein Maß erreicht, wo von Volksnähe nicht mehr die Rede sein kann. Doch Arroganz weckt Widerstand. Das ist im persönlichen Leben so und auch in der Gesellschaft. Im persönlichen Umfeld kann jeder Einzelne eine relativ schnelle Entscheidung treffen, wie er Arroganz ihm gegenüber begegnet. In der gesamten Gesellschaft ist diese Entwicklung ein Prozess des Sammelns und des Ansammelns. Zu sofortigen Entscheidungen kommt es nicht. Und so bedarf es politischer Entwicklungen, denen eine gewisse explosive Spannung innewohnt, die das Leben und Denken des Einzelnen und in Folge weiter Teile des Volkes bestimmen.

Solche explosiven Situationen waren und sind die Bankenkrise 2008, die Euro-Rettung Griechenlands 2010, ja natürlich der Flüchtlingszustrom 2015 und nicht zuletzt der Ausgang der Präsidentschaftswahlen in den USA im November 2016.

Es gab bereits bei der Einführung des Euro Bedenken von führenden deutschen Ökonomen. Die Professoren Wilhelm Hankel, Joachim Starbatty und weitere 23 Wissenschaftler warnten vor dem wirtschaftlichen Gefälle zwischen den starken und nicht so starken Volkswirtschaften in Europa. Sie wurden von den Politikern als reine Ökonomen ohne politischen Sachverstand abqualifiziert. Kein Anhören, kein Austausch von Argumenten und Gegenargumenten. Der Euro kommt, basta. In Frankreich und den Niederlanden wurde das Volk befragt, in Deutschland nicht einmal mit den Experten diskutiert. Aus dieser Euro-Debatte heraus formierte sich eine Partei. Sie nannte sich die Alternative für Deutschland (AfD) und wurde als „Euro-Retter“ belächelt.

Der Euro sollte die Einheit der europäischen Staaten vertiefen und entpuppte sich spätestens seit dem Offenbarungseid des Mitgliedsstaates Griechenland als ein Spaltpilz. Die nun schon seit sechs Jahren andauernde Griechenland-Rettung wird in vielen Euro-Ländern kritisch gesehen. In der deutschen Bevölkerung ist sie zumindest nicht unumstritten. Doch wer auf verständliche Erklärungen über die Notwendigkeit der weiteren Milliarden-Hilfen von Regierungsseite hofft, muss sich anhören lassen „wenn der Euro stirbt, dann stirbt Europa“ versehen mit dem Zusatz, dass dies alternativlos sei.

Diese Haltung ist nachgerade eine Steilvorlage für die AfD, die in der Wählergunst zulegt, aber immer noch als die ausschließliche Euro-Partei belächelt wird. Dabei ist die AfD längst in die ersten Länderparlamente mit einem teils zweistelligen Wahlergebnis eingezogen.

Die Stimmungslage in Deutschland änderte sich im Herbst 2015 schlagartig. Nahezu eine Million Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens strömen ins Land. Der tägliche Ansturm überfordert die zuständigen Behörden, eine Registrierung jedes einzelnen Flüchtlings ist nicht möglich. Die ehrliche Willkommenskultur der Deutschen wandelt sich schon bald in Skepsis, ob die Mammutaufgabe der Integration tatsächlich geschafft werden kann. Es kommt zu Übergriffen rechter Gruppierungen, vorgesehene Asylunterkünfte gehen in Flammen auf.

Die Ereignisse in der Kölner Silvesternacht verschärfen die Stimmung erneut. Die immer noch vorherrschende Skepsis gegenüber der Flüchtlingspolitik der Regierung verwandelt sich in Ablehnung. Die Bundeskanzlerin verweigert auch jetzt noch die Einführung einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen. Die folgenden Landtagswahlen bringen das von den etablierten Parteien befürchtete Ergebnis. Die AfD wird in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-

Anhalt mit über 20 Prozent der Wählerstimmen jeweils zur zweitstärksten politischen Kraft.

In den so genannten Volksparteien CDU und SPD beginnt ein Umdenken. Im Lichte der Wahlerfolge der AfD ist ihnen das Lachen vergangen. Mehr noch: Die gebetsmühlenartige Titulierung der AfD als rechtspopulistisch wird zurück gefahren, sie hat im Volk ihre beabsichtigte Wirkung verfehlt. Zwar weigert sich die Bundeskanzlerin weiterhin eine Obergrenze für Flüchtlinge zu benennen, doch sie gibt das Versprechen ab, dass sich die Ereignisse vom Herbst 2015 nicht mehr wiederholen werden.

In knapp zehn Monaten sind Bundestagswahlen. Der Ausgang offen. In den Regierungsparteien rumort es, die satte Mehrheit ist ins Wanken geraten. Wolfgang Schäuble, der „große alte“ in der CDU, fordert einen Lernprozess in seiner Partei und eine neue Übereinkunft zwischen all jenen im Land, die sich an den aktuellen Debatten beteiligen und nach Lösungen suchen. Was er damit meint wird im Rückblick auf die vergangenen Monate deutlich. Wer die Menschen zurücklässt und allein lässt, wird sie eines Tages verlieren.

Die Regierungsparteien hat eine Angst erreicht. Die Angst vor dem Volk.


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