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Geflüster

Es wächst nicht zusammen

Von Wolfgang Nagorske

Als vor gut 35 Jahren die Berliner Mauer zusammenfiel und die deutsche Wiedervereinigung nach vierzig Jahren Trennung in Ost und West wieder möglich wurde, da gab es viele Visionen wie das Zusammenfinden der Menschen aus zwei unterschiedlichen Staaten gestaltet werden sollte. Willy Brandt, früherer Bundeskanzler der Bundesrepublik, war fast zehn Jahre Regierender Bürgermeister von Westberlin und hatte die Teilung der Stadt stets vor Augen. Beim Fall der Mauer sagte er: Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört. Brandt erlebte die Einheit nur drei Jahre. Würde er noch heute leben, wäre ihm die Enttäuschung über seine Vision ins Gesicht geschrieben. Nein, auch nach 35 Jahren deutscher Einheit ist nicht zusammengewachsen was zusammen gehört. Eine Ursachenforschung darüber, warum es so gekommen ist wie es gekommen ist, ist schwierig. Vielleicht sogar unmöglich. Da ist der Großmut der westdeutschen Eliten über die sozialistischen Eliten im Osten, da ist der große Unterschied in den vormaligen Lebensverhältnissen der Menschen in den beiden Teilen Deutschlands und nicht zuletzt die politische Arroganz der Westdeutschen über das Leben in der DDR. Und auch heute sprechen Zahlen eine deutliche Sprache. Nur 12 Prozent der höchsten Führungspositionen in staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen werden von Ostdeutschen besetzt, bei einem Bevölkerungsanteil von 20 Prozent. In den Medien sind 92 Prozent der Führungsspitzen von Westdeutschen besetzt und in der Justiz beträgt der Anteil der Ostdeutschen in den Führungsgremien ganze zwei Prozent. In der Bundeswehr halten 35 Jahre nach der Einheit alle Führungspositionen Westdeutsche inne. Dieser Prozess hat sich verfestigt. Es passt nicht zusammen, wenn in politischen Reden die große Geschichte der Einheit erzählt wird und die vielen einzelnen Geschichten darüber verschwinden. Willy Brandt hätte heute vermutlich andere Worte gewählt.